Wie hast Du wohl heute Deinen Tag begonnen?
Im Rahmen Deiner Morgenroutine in den Spiegel lächelnd Deine Positivaffirmationen aufgesagt? Im Lotussitz tief durchgeatmet und Dein Mindset optimiert? Noch ein kleiner Eintrag ins Dankbarkeitstagebuch und schon kann es nur noch ein erfolgreicher, perfekter, glücklicher Tag werden. Ach was, ein erfolgreiches, perfektes, glückliches LEBEN selbstverständlich.
Wo ich hinsehe: Instagram, Coaching Bubble, Zeitschriften, Ratgeber Abteilung der Buchhandlungen: Glücksversprechen. 7 Schritte zum Glück, Atme Dich zum Glück, das Glücksprinzip, Glück durch Dankbarkeit. Glückszitate und Kalendersprüche, die eines eint:
Glück ist unser aller Ziel. Sollte es auf dem Weg zu unser aller Glück das ein oder andere kleine oder größere Stolpersteinchen geben: Keine Sorge, mittels Affirmationen und Manifestationen verwandeln wir jeden Anflug von Negativität in etwas Gutes. Alles Deine persönliche Entscheidung, eine Frage Deines Mindsets und Deiner positiven Haltung.
Negative Gefühle, Krisen und Täler sind lediglich Learnings, Geschenke quasi auf dem Weg zum Stein der Weisen. Alles hat einen Sinn, jedes durchschrittene Tal macht Dich stärker, Deine Angst, Deine Trauer, Dein Schmerz: alles reparaturbedürftige Fehler im System und überhaupt: Du kannst alles schaffen, wenn Du nur wirklich willst.
Da, wo diese Haltung vertreten wird, wird Glück zur dominierenden Norm, alles Negative wird verdrängt, ausgeblendet oder mit einem rosa Mäntelchen überdeckt. Es gilt das Dogma des Optimismus, belohnt wird, wer gut drauf ist, nach vorne sieht und immer wieder aufsteht.
DU bist Deines Glückes Schmied*in – wer gebeutelt ist von Schicksalsschlägen, Verlust, Krankheit, Krise: selbst verantwortlich. Nicht positiv genug gedacht, nicht genug angestrengt, im Versandhaus des Universums die falsche Bestellnummer angegeben?
Die Verantwortung für Deine Krise, Deinen Krebs, Deine Depression und für Deine Zukunft liegt allein bei Dir und Deinem Mindset.
Es erfordert Mut, umgeben von unverbesserlichen Optimist*innen, bedingungslos positiv denken Menschen, zu sagen: NEIN. Ich seh das mal als Realist*in und von Zeit zu Zeit auch als Pessimist*in.
Mal ehrlich, was brauchst Du in herausfordernden Zeiten? Denk-Positiv-Smileys, #goodvibesonly Hashtags, Schönfärberei durch unreflektierte Kalendersprüche? Bagatellisieren Deiner Not oder gar Vorwürfe, Du sähest die Dinge zu negativ? Oder brauchst Du, wie wir am Ende alle, Solidarität, Verständnis, Unterstützung und Akzeptanz?
Wenn Dein Schmerz, deine Angst, Deine Trauer NICHT anerkannt werden als normale und gesunde Reaktionen Deiner Seele, wenn sie lediglich als reparatur- oder heilungsbedürftig gelten, wenn sie bei Deinem Gegenüber keine Akzeptanz erfahren, wem magst Du Dich dann noch anvertrauen?
Da, wo nur das Positive gesellschaftsfähig ist, ziehen Menschen, die im Happinesswettbewerb nicht mithalten können, sich zurück. Setzen eine Maske des Lächelns auf und schweigen. Isolieren sich, empfinden Schuld und Scham angesichts ihrer Unfähigkeit, die Glücksformel auf ihr eigenes leben anzuwenden.
Wer sich in der Krise isoliert fühlt, gerät nicht selten in einen Sog der Verzweiflung, Hilflosigkeit. Obendrauf kommen unschöne Reaktionen der Außenwelt. Ob Diskriminierung und Stigmatisierung bei menschen mit psychischen Erkrankungen, ein „nun ist es aber genug getrauert“ nach einem Verlust oder einfach der Druck, endlich mal wieder gut drauf zu sein und den anderen die Laune nicht zu verderben.
Ein paar, vielleicht erschreckende Zahlen: (1/³ psychisch krank) Ungefähr einmal in jeder Stunde des Tages erfolgt in Deutschland ein Suizid. Alle zwei Tage ist es ein junger Mensch unter 20 Jahren.
Warum, wenn es doch so leicht ist, das Glück zu lernen, es sich zu eratmen, sich zu manifestieren oder sich schlicht dafür zu entscheiden?
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unser Streben, immer positiv zu denken, gegen alles Negative schnellstmöglich einen Aktionsplan zu entwickeln, psychische Erkrankungen begünstigt und uns als Menschen voneinander entfernt.
Wie begegnen wir uns noch, wenn wir uns gezwungen sehen, stets ein Lächeln aufzusetzen, Schmerz, trauer und Wut hinter verschlossenen Türen wegzuatmen oder überzuschminken? Beziehung, Nähe, Intensität in der Zwischenmenschlichkeit entsteht durch das ungefilterte Miteinander sein. Das eigene, zuweilen auch mal zersplitterte Ich zu zeigen, Scheisse zu schreien, wenn es einfach mal Scheisse ist.
Es braucht mehr Raum, mehr Orte, mehr Begegnungen, an denen wir uns neben den guten auch die traurigen Geschichten erzählen, die nicht immer von Happy Endings handeln, von silverlinings und Glücksfließbändern.
Und wir brauchen all das, was uns manchmal unangenehm ist, die Trauer, die Wut, die Angst, den Schmerz. Als Leitplanken für unsere eigene und die Befindlichkeit anderer. Als Wegweiser, die uns durchs Leben führen. Um unsere Bedürfnisse und die anderer zu erkennen.
Gefühle zu vermeiden, zu unterdrücken oder per Manifestation umwandeln zu wollen, ist ein Schuss, der nach hinten losgeht. Der Verdrängungsprozeß unangenehmer Gefühle, sie in einen dunklen Keller sperren zu wollen, kostet Berge von Energie. Und das Verdrängte kommt immer zurück. Im ZWEIFEL in Form von körperlichen Schmerzen, innerem Stress, Erschöpfung – es bahnt sich seinen Weg.
Das beste Mittel bei Schmerz, Trauer, Wut: Fühlen. Mitten rein. Da wo die Achtsamkeitsgurus sagen: Atmen. Sieh nur, was es Dir sagen will.
Da sage ich: Mitten rein. Die Wut herausfluchen, Schmerz und Trauer in Sturzbächen herausweinen.
Hast Du schonmal im Auto andere Verkehrsteilnehmer*innen angeschrien, Tiraden von Schimpfwörtern ins Universum geschickt? Wars gut?
So, wie Glück in allen Poren sitzt, wir es mit dem ganzen Körper spüren, leben und auch teilen möchten, so ist es mit der Wut, der Angst, dem schmerz. Sie wollen gefühlt werden. Und bestenfalls geteilt, indem jemand zuhört oder einen Arm anbietet. Menschen fühlen sich dann besser, zumindest für den Moment, wenn sie sich in ihrer Not gehört fühlen, verstanden, aufgehoben.
Wollen wir wirklich glauben, dass dauerhaftes Glück ein erreichbares Ziel ist? Und vor Erschöpfung umfallen, weil wir es nie schaffen werden? Oder wollen wir akzeptieren, dass das Glück eine Momentaufnahme ist, das Leben eine Achterbahnfahrt, bei der die gesamte Gefühlsklaviatur dazu gehört?
Wollen wir Menschen suggerieren, ihr Leid sei selbst gemacht? Weil jede nur das bekommt, was sie verdient, alles einen Sinn ergibt und Glück eine Entscheidung ist? Jedes „Sieh es doch mal positiv“, „Jede hat ihr Päckchen zu tragen“ ist eine Bagatellisierung und hat mit Solidarität wenig zu tun.
Seien wir ehrlich, nicht immer wird am Ende alles gut und nicht jedes Tal macht uns stärker. Affirmationen haben noch keinen Krebs geheilt und Manifestationen noch niemanden zur Million verholfen.
Manchmal ist das Schicksal einfach nur ein mieser Verräter und dann brauchen wir alle Menschen, die da sind, zuhören, einen Arm anbieten oder Erbsensuppe kochen. Orte, an denen wir weinen dürfen. Schreien. Fluchen. Verzweifelt sein. Unseren Schmerz teilen dürfen.
Ich plädiere für radikalen Gefühlsmut, ein Leben mit Höhenflügen und tiefen Tälern. Lasst uns den Mut haben, uns dem Leben in aller Intensität zu stellen, sowohl den glücklichen Zeiten als auch den schmerzhaften.
Lasst uns aufhören, die beste Version unserer Selbst sein zu wollen, lasst uns einfach die echteste Version unserer Selbst sein.
Für mich wohnt der Mut an den Tischen, an denen wir zusammensitzen, wie wir wirklich sind: ungeschminkt, ungeschönt, unmaskiert. Unperfekt. Und an denen wir uns zuhören, so richtig, egal, ob die erzählte Geschichte ein Happy End hat oder nicht.