Früh am Morgen öffne ich das Fenster zur Welt:
Sag Welt, was brauchst Du heut von mir?
Wem soll ich genügen, welche Rolle spiel ich heut?
Ich entscheide, welches Gewand ich heute trage, welcher Hut es sein darf.
Bin Meisterin der Masken.
Ich bin viele, trete nie selbst in Erscheinung.
Vor vielen Jahren erschuf ich Gefährtinnen, die an meiner statt in der Welt bestehen, wie die Heldinnen in den großen Geschichten.
Ich selbst darf nicht erkannt werden – bin nicht geschaffen für die Gnadenlosigkeit der Welt.
Bin mal leise, sensibel und verletzlich, mal groß und stark doch nie bereit, mich selbst da draussen zu zeigen.
Schicke meine Masken draußen ins Gefecht –
Wer passt heut ins System? Wer darf heut vorne auf der Bühne stehen?
Die Rebellin?
Lederjacke und zerrissne Jeans – sie sitzt gern am Tresen mit einem doppelten Whisky in der Hand und zeigt der Welt den Mittelfinger. Regeln sind da, um gebrochen zu werden und die Welt darf sich gern ins Knie ficken.
Die Unnahbare?
Seriös, intellektuell, sie meldet sich selten zu Wort, fast umgibt sie ein Hauch von Hochmut, der doch nur ihre Unsicherheit verdeckt – sie ist eine exzellente Beobachterin.
Pippilotta Ronja Langstrumpf Räubertochter?
Bunt und wild und frei – barfuß durch Pfüten tanzend darf die Welt sein, wie sie ihr gefällt, frech und wunderbar und das einzige, was die Welt braucht, ist mehr Pippi im Leben.
Die Löwenmutter?
Würdevoll und ein bißchen weise beschützt sie die ihren bis aufs Blut. Sie trägt ein warmes wunderbares Herz in sich, doch kommst Du ihrem Rudel zu nahe – wirst Du diesen Schritt auf ewig bereuen.
Wir sind viele – und ich entscheide, wen Du sehen darfst.
Du glaubst, mich zu sehen, zu erkennen? Diese Illusion kann ich dir nehmen.
ich zeige mich nie, nur in den Rollen, deren Drehbücher ich selbst schrieb.
Vor vielen Jahren sah ein kleines, schüchternes Mädchen neugierig und sanft, mit grossen, tiefblauen Augen in die Welt.
Und sie erkannte, dass die Welt nicht nur aus Liebe, sondern genauso aus Verrat, Dreck und Gewalt besteht.
Und hinter der Mauer erwachsenen Schweigens sah sie: Die großen Leute sind alles nur Scheinriesen.
Um in dieser Welt zu bestehen, um sich selbst nicht in aller Verletzlichkeit und Weichheit zu zeigen, erschuf sie die Gefährtinnen.
Fortan vertraten wir sie, draußen in der Welt.
Und beschützen so ihren sensiblen, weichen, verletztlichen Kern. Wir ermöglichen es ihr, sich zu verstecken.
ICH gestatte Dir nicht den Blick auf meine Achillesferse, auf die verletzliche Stelle, die das Drachenblut damals nicht erreichte. Es ist verbotenes Terrain. Mein Vertrauen gibt’s nicht als Geschenk.
Solltest du es wagen, mich zuviel zu fragen, mir zu nah zu kommen, einen Versuch wagen, in mein Innerstes zu sehen –
sei gewiss – ich werde zurückweichen, sieben Schlösser und acht Siegel umgeben uns.
Meine Gefährtinnen werden sich dir geschlossen in den Weg stellen…
Der Preis für die Maskerade?
Wer bin ICH noch, ging ich verloren in meinen eigenen Inszenierungen? Find ich mich noch unter all den Geistern, die ich rief?
Wird es mir eines Tages gelingen, mich wiederzufinden? Bin ich die Summe all meiner Rollen, Masken und Gewänder? Oder nichts von alledem? Werden wir eines Tages zu einem ganzen verschmelzen mit allem, was uns ausmacht?
Wenn mir das eines Tages gelingen sollte – welch Meisterstück!
Und an jenem Tage werden wir eins sein
und ich werde dastehen mit mir selbst als Ganzes
als bunte, wilde , rebellische, intellektuelle, würdevolle und weise Alte.